Hamburg von oben – Ein historischer Rundflug
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Der klassische Archäologe war wieder im Depot unterwegs und hat diesmal gleich über seinen Tellerrand geschaut. Inspiriert von der aktuellen Sonderausstellung „Margiana – Ein Königreich der Bronzezeit“ ist er über ein vorderorientalisches Fundstück gestolpert, ein Streitwagen-Modell aus dem Syrien des 3. Jahrtausends v. Chr.
Dieser kleine Streitwagen wurde aus Ton hergestellt. Er besitzt vier Räder mit ausmodellierten Naben und eine hohe Brustwehr. Was auf den ersten Blick vielleicht wie eine pompöse Rückenlehne aussieht, stellt tatsächlich die geschützte Vorderseite des Streitwagens dar. Der rechteckige „Klotz“ ist der Sitz des Wagenlenkers. Ursprünglich begrenzten vier Vorsprünge den Sitz, heute sind nur noch zwei erhalten. Die Beine des Lenkers verschwanden hinter der niedrigen Brüstung an den Seiten des Wagens. Hinter dem Sitz befindet sich ein kleiner Absatz, der als Trittbrett für einen Mitfahrer dienen konnte.
Der ganze Wagen ist mit einfachen Ritzungen und kleinen Applikationen auf dem Fahrersitz und dem Wagenschild verziert. Die hölzerne Achse, welche die Räder trägt, wurde modern eingefügt, doch die Konstruktion lässt vermuten, dass die Macher vor 4000 Jahren genauso vorgingen.
Dass es sich bei diesem Gefährt um irgendeine Art Wagen handelt, ist offensichtlich. Dass es sich aber konkret um einen vorderorientalischen Streitwagen handelt, lässt sich anhand von zeitgenössischen Darstellungen bestätigen. Auf der Standarte von Ur findet man genau solche Streitwagen.
Bei der sogenannten Standarte von Ur handelt es sich eigentlich um einen Holzkasten – möglicherweise sogar ein Resonanzkörper eines Musikinstrumentes – aus einem frühdynastischen Herrschergrab im Königsfriedhof von Ur, der in die Zeit von 2850 bis 2350 v. Chr. datiert.
Der hier abgebildete Ausschnitt stammt von der „Kriegsseite“ der Standarte und zeigt die siegreichen Truppen des Herrschers von Ur. Man kann in der Abbildung unseren Streitwagen gut wiedererkennen: eine hohe Brustwehr, ein sitzender Wagenlenker (die Beine sind nicht dargestellt, da sie hinter der Brüstung liegen) und sogar ein stehender Mitfahrer sind dargestellt.
Es fällt auf, dass die Wagen von vier Eseln gezogen werden, nicht von Pferden. Das liegt daran, dass domestizierte Pferde erst gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. von Russland aus nach Mesopotamien gelangten. Später, im 1. Jahrtausend v. Chr., gewannen dann berittene Truppen ohne Wagen an Bedeutung, besonders für Feldzüge im Bergland.
Wagen waren schon immer – möglicherweise seit der Einführung des Rades im frühen 3. Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien – mehr als nur einfache Transportmöglichkeiten. Die Bedeutung von Wagen lässt sich einerseits daran nachvollziehen, dass sie immer weiterentwickelt wurden. So wurden beispielsweise die Scheiben- oder Vollräder, wie sie an unserem Modell zu sehen sind, später durch Speichenräder ersetzt, die Unebenheiten des Bodens besser abfedern konnten.
Andererseits wurden Wagen – wie übrigens auch noch heute – auch zur Repräsentation genutzt. Oft wurden Könige oder Götter in prunkvollen (Streit)wagen dargestellt, und auch die Militärparade auf der Standarte von Ur zeigt (vermutlich) den Höhepunkt des Wagendesigns dieser Zeit.
Das Tonmodell aus dem Depot des Museums stellt einen Streitwagen dar, dessen Typ in der 2. Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. in Nordsyrien und Anatolien verbreitet war. Es ist gut möglich, dass sich diese Nachbildung in einem Tempel befunden hat, vielleicht als Stiftung eines Wagenlenkers, um die Götter zu Ehren, sich zu bedanken, oder um für Erfolg in der nächsten Schlacht zu bitten.
Freier Mitarbeiter am AMH