Hamburg von oben – Ein historischer Rundflug
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Ende Mai 2020 durfte ich Kay-Peter Suchowa auf der Ausgrabung „Neue Burg“ im Hamburger Nikolai-Quartier besuchen. Der Grabungsleiter nahm sich die Zeit, mir die Arbeit seines Teams dort genau vorzustellen. Deshalb – bevor es in medias res geht: Ganz herzlichen Dank an Kay für die außerordentlich spannende und unterhaltsame Führung!
Das Archäologische Museum Hamburg und Stadtmuseum Harburg ist ein „grabendes Museum“. Es erfüllt in der Freien und Hansestadt Hamburg und im niedersächsischen Landkreis Harburg die gesetzlich definierten Aufgaben der Bodendenkmalpflege. Museumsdirektor Prof. Dr. Rainer-Maria Weiss hat auch die Position des Landesarchäologen der Freien und Hansestadt Hamburg inne.
Für archäologische Laien wie mich stellt sich natürlich zunächst die Frage: Was genau bedeuten Bodendenkmal und Bodendenkmalpflege? Unter Bodendenkmal, so erklärt mir Kay, versteht man ein per Gesetz geschütztes Zeugnis der Kulturgeschichte im Boden. Aufgabe der Bodendenkmalpflege ist es, die Erforschung, den Schutz und die Erhaltung von archäologischen Hinterlassenschaften zu gewährleisten. Eine ausführliche Beschreibung der Sachverhalte findet sich hier.
Bereits im 19. Jahrhundert vermutete man, an dieser Stelle im Herzen Hamburgs Reste einer Befestigungsanlage zu finden, denn diese Straße trug den Namen Novo Castrum, also Neue Burg. Das erste Mal archäologisch erfasst wurde die Anlage nach dem Krieg in den 50er-Jahren unter Steffens. Datiert wurde sie damals, in Übereinstimmung mit Adam von Bremens Hamburger Kirchengeschichte, auf nach 1161.
Nach Ausgrabungen in dem Areal im Jahr 2014 konnte allerdings anhand von dendrochronologischer Datierung der freigelegten Eichenholzkästen aus dem Fundament des Ringwalles die Erbauungszeit des Walles auf die Jahre von 1021 bis 1033 konkretisiert werden. Damit fällt der Bau des Walles in die Regierungszeit von Bernhard II., dem Vaters Ordulfs. Da Ordulfs Regierungszeit, den Quellen nach, eher vergleichsweise friedlich verlief, stand bereits die Frage im Raum, aus welchem Anlass er diese zur damaligen Zeit größte Burganlage Norddeutschlands am Rande der Alsterschleife errichtet haben solle.
Um der gezeigten Karte einen Maßstab zu geben: Von Osten nach Westen (rechts nach links) hat der in der Abbildung orange eingefärbte Wall einen Außendurchmesser von circa 200 Metern. Insgesamt umfasst das Gebiet etwa 3,5 Hektar. Der Wall selbst hat eine Breite von 36 Metern und der höchste ausgemessene Punkt liegt auf 5,01 Meter. Es wird angenommen, dass auf der Krone des Walles ein etwa 2,4 Meter breiter Wehrgang aus Bohlen gewesen sein könnte.
Beim Bau des Walles der Neuen Burg wurden über 420.000 Eichenbäume verwendet. Über dieser Lage Eichenholz wurden ebenfalls in Massen Birke, Erle und Weide verbaut. Eine derartige Menge Holz konnte nur unter erheblichem logistischen Aufwand beschafft werden. Günther Bock, ein Stormaner Geschichtsforscher, geht davon aus, dass dafür Rodungen bis an die Grenzen Lübecks heran notwendig waren. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die sächsischen Billunger im Umland mehr als nur Steuern, wie bisher angenommen, eintrieben.
Auf diesem Foto einer früheren Grabung ist ist der Aufbau der Fundamente des Walls zu erkennen, die inzwischen abgetragen wurden. Dieser sächsische Ringwall ist ähnlich aufgebaut wie ein Deich. Die, mit Erde aufgefüllten und so beschwerten, Eichenholzkästen im Inneren dienten wohl dazu, den deichartig flach ansteigenden Wall besser gegen den Tidehub der Elbe zu sichern, welcher den Wasserstand der Alster hier beeinflusste, als es ein einfacher, steiler Erdwall getan hätte.
Außerdem ist die Bauweise der Kästen aufschlussreich: Die Verkämmung der Hölzer ist typisch für den slawischen Burgenbau. An diesem Beispiel verdeutlicht Kay Suchowa, dass in diesem sächsischen Ringwall also slawisches Holzbau-KnowHow eingesetzt wurde.
Das 1000 Jahre alte Eichenholz aus dem Wallfundament ist in einem fantastischen Erhaltungszustand. Nach ausführlichen Tests und Probebearbeitungen wurde klar, das Holz könne durchaus erneute Verwendung finden. Das Archäologische Museum Hamburg bereitet zur Zeit für 2021 eine Ausstellung über die Burgen Norddeutschlands vor. Dabei wird voraussichtlich Holz aus dem Wall eingesetzt. Wer mehr darüber erfahren möchte, dem sei der AMH-Podcast „Archäologie und Fotografie Teil 1“ empfohlen: Dort denkt Dr. Michael Merkel, der Sammlungsleiter des AMH, laut über die Ausstellungskonzeption und eventuell umsetzbare, wie er es nennt „technische Spielereien“ nach.
Eine weitere interessante Erkenntnis, so Kay Suchowa, wird aus dem Fund von Wurzelwerk einer etwa 20 bis 30 Jahre alten Birke im oberen Wallbereich abgeleitet: Es muss eine längere Periode der Nichtnutzung der Verteidigungsanlage auf dem Wall gegeben haben, anders wäre die lange Überlebensdauer dieser Birke auf dem Wall schwer zu erklären. Außerdem seien Brandspuren im oberen Abschnitt der Wallanlage gefunden worden, die möglicherweise zu Erklärung der kurzen Nutzungsdauer der Anlage beitragen.
Die Gründung Hamburgs schien zwar mit dem Freibrief von Barbarossa belegt, allerdings handelt es sich hierbei nachweislich um eine Fälschung aus dem 13. Jahrhundert. Wie sich die Gründung abgespielt haben mag, fasst der Grabungsleiter für mich als Fachfremde ungefähr so zusammen:
„Und da kommt ein junger Adliger, Wirad von Boizenburg, zu seinem Chef, Graf Adolf III. von Schauenburg, und sagt: „Du, ich habe 50 Kaufleute an der Hand und wir wollen eine Stadt gründen für dich und du musst keinen Pfennig dazu bezahlen. Das einzige, was wir wollen ist Lüb‘sches Stadtrecht. Graf Adolph von Schauenburg, der auch Stadtherr von Lübeck war, antwortet: Ja, macht das doch. Und wir nehmen an, das erste was gemacht wurde: man hat den inneren Wallbereich aufgefüllt mit Erde und hatte plötzlich einen Stadthügel, der fünf Meter höher war als der Wasserspiegel und der hatte einen Ost-West-Durchmesser von ungefähr 200 Metern, vielleicht bis 220 und Nord-Süd so rund 180 bis 190. Und auf diesem Hügel wurde Hamburg gegründet.“
Einige Mauern, wie auf dem Foto zu sehen, wurden bei der Ausgrabung stehengelassen, um zum Beispiel zu verdeutlichen, wo Grundstücksgrenzen verliefen. Über alte Katasterkarten konnte nachvollzogen werden, welchen Familien diese Parzellen (im Jahr des Großen Brandes in Hamburg, 1842) gehörten. Tatsächlich, berichtet Kay Suchowa, gab es bereits BesucherInnen auf der Ausgrabung, deren Vorfahren hier lebten.
Die Backsteine im zweiten Bild stammen aus dem 14. Jahrhundert und anhand dieses Befundes und der aus Archiven hinzugezogenen historischen Stadtpläne und Karten, erklärt mir Kay, kann belegt werden, dass sich diese Parzellengrenze bis 1842 nicht veränderte. Hingegen wird auf dem folgenden Bild der Gerbergrube aus dem 13. Jahrhundert deutlich, dass die Gerbergrube sich über zwei der späteren Parzellen zog. So ergänzen sich alte Dokumente und die Befunde der Ausgrabung und erzählen faszinierende Geschichten.
„Die Backsteine stammen aus dem 14. Jahrhundert? Woran machst Du das fest?“, frage ich Kay. Um diese Frage zu beantworten, muss Kay etwas ausholen: In Norddeutschland werden Backsteine seit dem frühen 12. Jahrhundert verbaut. Das Kloster Jerichow, südlich von Tangermünde gelegen, ist eine der ganz frühen Herstellungsstätten für Backsteine. Diese wurden zunächst im Sakralbau, später dann auch im Bau von Burgen und Palästen verwendet.
Im Profanbau taucht Backstein als Baumaterial erst Anfang des 13. Jahrhunderts auf. Zwischen 1201 und 1227, als Dänemark über Holstein und Lübeck herrschte, wurden hier die mit 10cm sehr hohen dänischen Backsteine verbaut. Zwischen Ende des 13. Jahrhunderts und 1700 wurde überwiegend das sogenannte Klosterformat mit 8 – 8,5cm Steinhöhe genutzt. 1872 wurde in Deutschland dann per Gesetz die Ziegelgröße normiert: 25 cm × 12 cm × 6,5 cm sind die Maße eines Ziegelsteins im (alten) „Reichsformat“. So konnte im Zuge der Industrialisierung und des weiter anwachsenden Güterverkehrs auf der Schiene sowohl Lager- und Transportplatzbedarf genau kalkuliert werden als auch Einkauf von beliebigen Herstellern erfolgen.
Weitere Anhaltspunkte gibt der Mauerwerksverband. So wurde im Mittelalter im „gothischen“ oder auch „märkischen“ Verband gemauert. Dabei wechseln sich innerhalb einer Reihe die schmale Seite (Binder) und die lange Seite (Läufer) der Steine in unterschiedlichen Mustern ab. Beim etwa ab 1600 genutzten Blockverband hingegen wechseln sich nur aus Bindern bestehende Reihen mit reinen Läuferreihen ab.
Für eine weitere zeitliche Zuordnung von Mauerwerk kann außerdem Material aus der Grube, die beim Bau gegraben und um die Fundamente herum wieder aufgefüllt wurde, genutzt werden. Insbesondere Keramikbruchstücke helfen bei dieser Eingrenzung, da sicher hier häufigere Änderungen im Herstellungsprozess genauere Datierungen zulassen. Wird zum Beispiel Dornenrandkeramik gefunden, darf angenommen werden, dass der entsprechende Befund nicht aus dem 12. Jahrhundert stammt, sondern später zu datieren ist. Ist ein Keramikbruchstück innen glasiert, so kann man davon ausgehen, dass es ab dem 16. Jahrhundert datiert werden muss.
Kays Erklärung, wie bei der Zuordnung und Interpretation des Vorgefundenen vorgegangen wird, ist natürlich nur ein Ausschnitt aus einem viel umfassenderen Prozess. Doch führt mir dieses Beispiel vor Augen, wie unglaublich komplex und vielschichtig die Arbeit auf so einer archäologischen Ausgrabung ist und welche Wichtigkeit die genaue Dokumentation der Funde und Befunde hat.
Letzteres, insbesondere auch die exakte Lage der Objekte, führt Kay aus, ist gerade deshalb von größter Bedeutung, weil es im Zuge der archäologischen Grabungen durchaus dazu kommen kann (wenn es nicht sogar unvermeidlich ist), dass die zu erforschenden Dinge zerstört werden. So wurden, um beim Beispiel dieser Grabung zu bleiben, die Eichenholzkästen im Wall nicht nur „freigelegt“, sondern entfernt. Und von den über den Kästen abgetragenen Schichten „Geschichte“ ist in diesem Beispiel dann noch nicht einmal die Rede. Dann wird, nach Beendigung der Grabungen, das Loch aufgefüllt und schließlich wird dieses Gelände wieder mit einer Straße überbaut werden. Die begrenzten Zeiten, die den Mitarbeitern der Bodendenkmalpflege zugestanden werden, bevor der Alltag in Form von Straßen, Neubauten etc. wieder Einzug hält, sind dabei natürlich eine zusätzliche Herausforderung für die Grabenden und Forschenden.
„Neben den Befunden, also den Teilen der Ausgrabung, die man nicht einfach so wegtragen kann“, beginnt Kay Suchowa und unterbricht sich sofort wieder. „Nicht unbedingt die wissenschaftliche Definition und noch dazu eine nicht ganz so klare Abgrenzung“, schmunzelt er, „denn der eine Mensch kann ganze Baumstämme wegschleppen, der andere…“. Ich ziehe es vor, nicht herauszufinden, wo für mich die Grenze zwischen Fund (tragbar) und Befund (nicht mehr tragbar) liegt. Doch auch Erdverfärbungen und Mauerreste zählen zu den „Befunden“, so dass ich den Begriff für mich als „Setting“ übersetze. Jedenfalls wenden wir uns von den Erdschichten, Mauersteinen und Holzresten ab und den „kleinen“ – und insbesondere für mich spektakulären – Funden zu.
Dieses Pilgerabzeichen, das auf das in der Neuen Burg gefunden wurde, gibt Kay noch Rätsel auf. Obwohl er sich intensiv mit der Thematik der Pilgerabzeichen auseinander gesetzt hat und auch an einer Arbeitsgruppe dazu teilnimmt, kann er das Objekt noch nicht zuordnen. In Lüneburg werde demnächst eine Ausstellung zu Pilgerabzeichen eröffnet und er freue sich, so Kay weiter, dort mit anderen Experten in den Austausch gehen zu können.
Der Steilkamm, aus dem Schienbeinknochen eines Rindes hergestellt, wird auf das 13. oder 14, Jahrhundert datiert. Oben ist das Kniegelenk zu erkennen. Der Knochen wurde gekürzt, dann halbiert und zugesägt.
Und dann das Spielzeugpferd … Dieses Pferdchen in der Hand halten zu dürfen, war natürlich etwas ganz besonderes. In meiner Fantasie galoppierte es samt Ritter gleich zur Verteidigung der Neuen Burg davon.
Gerade, beim Schreiben dieses Blogs, geht mir eines immer wieder durch den Kopf: So informativ und lebendig erzählen zu können, wie Kay es bei dieser wunderbaren Führung durch Hamburgs „Kinderstube“ getan hat, ist eine unglaubliche Kunst. Ich kann hier tatsächlich nur Bruchstücke dessen wiedergeben, was Kay mir vermittelt hat. Übrigens: Im Podcast AMH 017: „Neue Burg – älter als gedacht“ spricht Kay-Peter Suchowa mit Kerstin Tolkiehn über den Stand der Dinge vor Beginn dieser Ausgrabung 2019 im Nikolai-Viertel.
Und ganz wichtig:
Natürlich gehen alle abgekürzten Sachverhalte, Irrtümer und Ungenauigkeiten, die Fachleute in diesem Text finden werden, nicht auf Kay oder das Archäologische Museum Hamburg zurück, sondern sind allein mir zuzuschreiben.
Praktikantin im Bereich Digitale Kommunikation am AMH