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Gesprächsstoff aus dem Wirtshaus

Überreste eines Moorleichenfundes im Depot (wieder-)entdeckt?

Forschergeist treibt das Team im Magazin an

Ich arbeite seit einigen Jahren für das Inventarisierungsprojekt am Archäologischen Museum Hamburg. Meine beiden Kolleginnen und zwei ehrenamtliche Kräfte sowie gelegentlich auch Studierende erfassen die Alt-Funde in den Magazinen des Museums und fügen die Basisinformationen in eine Datenbank ein. Meine Kollegin Kathrin Mertens hat in ihren Blog-Beiträgen „Futter für die digitale Welt“ und „Mission Magazin: Auf der Jagd nach den verlorenen Töpfen“ an anderer Stelle bereits Einblicke in unsere Arbeit gegeben.

Meine Hauptaufgabe besteht darin, die Funde, die für ‚fotografierenswert‘ gehalten werden, abzulichten, damit der entsprechende Datensatz einen Bildnachweis erhält. Als sehr Archäologie- und Geschichtsinteressierter stoße ich immer wieder auf Objekte, die mich zu eigenen Recherchen anregen. Die hier abgebildete Zeichnung gab den Ausschlag, mich neben meiner Arbeit ein wenig mit Moorleichenfunden im norddeutschen Raum zu befassen. Zu sehen ist ein Ausschnitt aus einem Blatt der Kurhannoverschen Landesaufnahme aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (das man unter anderem bei der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen digital einsehen kann).

Historische Karte vom Rieper Moor mit Markierung der Fundstelle einer Moorleiche - Quelle: Auszug aus den Geobasisdaten der Niedersächsischen Vermessungs- und Katasterverwaltung, © 2021 LGLN

Moorleichenfunde in Norddeutschland

Dieses Kartenkonvolut ist für die Archäologie und die Heimatforschung ein wertvolles Werkzeug. Ein Student machte mich auf eine Kreuz-Markierung mit Text im Rieper Moor aufmerksam. Diese Stelle ist nördlich von Riepe (Ortsteil von Vahlde) zu lokalisieren. Die historische Anmerkung ist nichts anderes als ein sehr früher Hinweis auf einen Moorleichenfund in Niedersachsen. Der Leichnam wurde 1754 beim Torfstechen entdeckt und nach Zeven zur Untersuchung überführt. Nach der Obduktion wurde er aber, anders als heute üblich, auf einem Friedhof der Region beigesetzt. Der Körper ist zwar für die Forschung verloren, doch wurde vorher so manches Textilfragment entfernt und überdauerte die Zeiten. Zwei dieser Fragmente fanden sich im Magazin des Bachmann-Museums in Bremervörde wieder.

stehend inszenierte Moorleiche vor drapiertem Tuch in schwarz-weiß
Historische Aufnahme des Mannes von Rendswühren aus dem Jahre 1873 - Quelle: Heinrich Handelmann, Adolf Pansch: Moorleichenfunde in Schleswig-Holstein. Kiel 1873; gemeinfrei

Der Mann von Rendswühren

Diese Textilreste stellen auch die Querverbindung zum Archäologischen Museum Hamburg dar: Im Laufe der Jahre bekamen und bekommen wir bei unseren Arbeiten das ganze Spektrum archäologischer Funde zu Gesicht. Es bleibt nicht aus, dass auch Objekte darunter sind, die aus dem Rahmen fallen, denn normalerweise ist unser Job recht flint- und scherbenlastig. Natürlich ist auch immer wieder etwas Interessantes dabei – es sind meist die Details, die den Ausschlag geben.

Jedenfalls fiel mir beim Recherchieren über Moorleichen im Internet eine eindrucksvolle alte Schwarz-Weiß-Fotografie ins Auge. Die abgebildete Person kam beim Torfstechen am 1. Juni 1871 ans Tageslicht. Die Aufnahme stammt von 1873. In der Literatur wird meist vom „Mann von Rendswühren“ gesprochen, da er im Heidmoor bei Rendswühren im Kreis Plön in Schleswig-Holstein gefunden wurde. Leben und Sterben des Mannes werden in das 1. oder 2. nachchristliche Jahrhundert datiert. Als Todesursache wurde massive Gewalteinwirkung auf den Kopf diagnostiziert. Die kleine Abhandlung, in der die Aufnahme zu sehen ist, wurde im Jahr 1873 von Heinrich Handelmann und Adolf Pansch unter dem Titel „Moorleichenfunde in Schleswig-Holstein“ publiziert. Die beiden Autoren waren es auch, die den Leichnam untersuchten und konservierten.

Die Inszenierung der Moorleiche

Für sich betrachtet, macht die Aufnahme zunächst einen stimmigen Eindruck, wenn man die aus heutiger Sicht etwas seltsam anmutende Inszenierung außer Acht lässt. Zuerst ging ich deshalb davon aus, dass das dargestellte Textil ein Original sein könnte. Derartige Tücher wurden ja schon bei Moorleichen gefunden. Erst der umfangreiche Auftritt des Fundes und seiner Geschichte bei Wikipedia und das Lesen des Buches von 1873 ließen mich neugierig werden: Hier ist etwas nicht stimmig. Erhaltungszustand, Größe und die Tatsache, dass in der Vitrine im Museum für Archäologie Schloss Gottorf, Landesmuseen SH, nur noch ein Fragment des Umhangs liegt, ließen das Foto aus der alten Publikation zwar nicht ganz als „Fake“, doch als fragwürdige Inszenierung erscheinen. So ruhte ebenso die Hand der Moorleiche beim Auffinden nicht verdeckend über der Scham. Auch waren die Beine in Originallage überkreuzt statt parallel.

Mann von Rendswühren in der Dauerausstellung des Archäologischen Landesmuseums Schloss Gottorf, Schleswig, Deutschland auf Wikipedia von Bullenwächter, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Textil- und Fellfragment aus der archäologischen Sammlung des AMH

Eine Querverbindung ins AMH

Als mir klar wurde, dass die Originalkleidung also offenbar nur noch als Fragment erhalten ist und in Gottorf vorliegt, erinnerte ich mich an zwei auf den ersten Blick ähnliche organische Objekte, die ich während meiner Arbeit für das Inventarisierungsprojekt fotografiert hatte. Dabei handelt es sich um ein Textilgewebe und ein Fellfragment.

Wie so häufig, handelt es sich bei den Objekten um Alt-Funde aus dem Museum für Völkerkunde (heute MARKK). Die Objekte liegen inzwischen in unserem Haus, weil vor einigen Jahrzehnten eine konsequente Zusammenführung aller staatlichen Sammlungen zur Vor- und Frühgeschichte Hamburgs an einem Ort vorgenommen wurde. Das neue Zuhause vieler Funde wurde das Archäologische Museum Hamburg (damals noch Helms-Museum). Diese Institution ist auch Sitz der Landesarchäologie Hamburgs sowie der Kreisarchäologie des niedersächsischen Landkreises Harburg.

Ein schneller Blick in das alte Inventarbuch bestätigte die Angaben im System. Der Eintrag aus dem Jahr 1890 nennt „Wollenzeug und Leder von der Kleidung einer Moorleiche“ aus Rendswühren bei Bornhöved.

Screenshot der Datenbank der Sammlung mit Foto des Fragments und zugehörigen Informationen
Auszug zum Fragment aus der Datenbank zur Sammlung
Ausschnitt zum Objekt aus dem alten Inventarbuch im Museum

Souvenirs vom archäologischen Fund

Sollten dem Museum keine Fälschungen angeboten worden sein, so haben wir im Magazin des AMH also womöglich noch Originalmaterial der Kleidung vom „Mann von Rendswühren“. Das erscheint mir sehr spannend. Passen würde es, denn laut dem Bericht von 1873 gehörten zum Textilensemble ursprünglich ein großes Tuch (Plaid) und ein ärmelloser Mantel aus Fell. In der anfangs erwähnten Schrift zur Moorleiche wird auch berichtet, dass die Schaulustigen nach der Bergung und Aufbahrung der Leiche Textilfetzen an sich nahmen, um sie dann in umliegenden Wirtshäusern herumzureichen – quasi als Gesprächsstoff. So ließe sich die Herkunft der Fragmente erklären.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Inventarbuches (hier nicht gezeigt) wird ein Dr. Kirmis als Einlieferer und Verkäufer erwähnt. Ich vermute, dass es sich bei dem im Inventarbuch erwähnten Dr. Kirmis um Prof. Dr. Max Kirmis handelt. Er war Naturwissenschaftler und Studienrat in Neumünster. Seine Privatsammlung bildete den Grundstock der Sammlung des Stadtmuseums Neumünster, welche später in das Museum Tuch + Technik Neumünster eingegangen ist. Damit wäre der Einlieferer also durchaus als seriös zu betrachten.

Die Forschung geht weiter

Mit etwas Glück sind unsere Fragmente nicht mit  Konservierungsmitteln des 19. Jahrhunderts kontaminiert und so für mögliche zukünftige Analysen brauchbar. Es scheint beispielsweise so, dass noch immer unklar ist, welches Tierfell für den Übermantel verwendet wurde. Früher wurde sogar spekuliert, es könne sich um Wisent handeln. Wisente sind die europäischen Gegenstücke zu den nordamerikanischen Bisons. Vor etwa 1900 Jahren (1. oder 2. Jahrhundert), also zu Lebzeiten des „Mannes von Rendswühren“, gab es sie noch.

Ich freue mich jedenfalls, dass meine Recherche eine spannende Geschichte und eine mögliche Querverbindungen zwischen der Sammlung des AMH und dem Museum für Archäologie Schloss Gottorf zutage gefördert hat, die in unserem Haus seit vielen Jahrzehnten komplett in Vergessenheit geraten war. Es zeigt sich, dass sich in einem Museumsdepot unendlich viele Geschichten verbergen und zahlreiche Erkenntnisse noch darauf warten (wieder-)entdeckt zu werden!

Autor

Picture of Torsten Weise

Torsten Weise

Fotograf im Projekt digitale Inventarisierung am AMH