Hamburg von oben – Ein historischer Rundflug
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Es war im Jahr 2006. Mein Ausstellungspartner Mathias v. Marcard und ich hatten gerade unsere Fotopräsentation „China Diary“ in der Galerie der Handelskammer Hamburg mit Fotografien aus China der 1930er- bis 50er-Jahre abgeschlossen, da kam ein gut gekleideter Herr auf uns zu und erzählte uns von seiner fotografierenden Cousine. Ob wir ihre Fotos nicht einmal anschauen wollen würden, fragte er uns. In diesem Ausstellungskontext der historischen Fotografien würde er sich trauen uns anzusprechen. Solche Angebote sind – ich sage es ganz ehrlich – keine Seltenheit und unser Enthusiasmus hielt sich aus Erfahrung dessen, was wir für gewöhnlich zu Gesicht bekommen zunächst einmal in Grenzen.
Seine Cousine – sagte er weiter – würde in Essen leben und habe viele Reisen dokumentiert und im Auftrag für verschiedene Verlage für Bildbände über Asien fotografiert.
Sie merken es längst, die Geschichte ist nicht zu Ende, sie beginnt erst gerade. Weil – in diesem Fall klang alles irgendwie doch so interessant. Im Frühjahr 2009 fuhren Mathias v. Marcard und ich erstmalig zu Frau von Schweinitz nach Essen an die Ruhr, um einen Blick in ihr Archiv zu wagen. Uns erwartete nicht nur eine gastfreundliche und weltoffene Dame, sondern auch eine, die sehr viel und Spannendes über ihre vielen Reisen zu erzählen hatte.
So arbeiteten wir uns stundenlang durch einen Teil der vielen dicken braunen Umschläge mit Negativen, Kontaktbögen und Handabzügen. Es hätten viele Ausstellungen werden können, eine über die Reise durch den Maghreb oder nach Thailand oder über ihren Besuch beim König von Tonga in die Südsee – alles im Archiv zu finden – wir entschieden uns aber damals für ihre Afghanistan-Fotos.
Die Entscheidung für dieses Thema hatte etwas mit der aktuellen Situation des Landes zu tun gehabt, die uns nun seit Jahrzehnten in Politik, Mandat und Berichterstattung begleitet und wenig dazu beigetragen hat, das Land in irgendeiner Form auch nur annähernd zu verstehen, uns die Geschichte, die Kulturen und Gebräuche oder die Menschen tatsächlich näher zu bringen. Bei uns kam Krieg, Einmarsch der Sowjets, Wiederstand der Mujaheddin-Kämpfer, Terror der Taliban und ein unglaublicher Vandalismus an. Wir sahen im Internet und im Fernsehen die Sprengung der Buddha-Statuen im Bamiyan-Tal im März 2001 und archaische Hinrichtungen im Stadion von Kabul. Das deutsche Mandat der ISAF hat auch in unserem Land hier für viel Diskussion, für Trauer und Schmerz gesorgt. Ihr folgte ab 1. Januar 2015 die Beratungsmission „Resolute Support“. Die afghanischen Sicherheitskräfte haben heute eine Stärke von etwa 350.000 Soldaten. Seit Januar 2015 tragen sie selbstständig die Verantwortung für die Sicherheit im Land. Allerdings benötigen sie nach wie vor internationale Unterstützung – auch die aus Deutschland. Was die Zukunft allerdings bringen wird, ist selbst für Experten schwer einschätzbar.
So arbeiteten wir, Yvonne von Schweinitz, Mathias von Marcard und ich an einer Ausstellung, die im Sommer 2010 zunächst in der Handelskammer Hamburg gezeigt wurde und anschließend auf Tour nach Bremen, Berlin, Dortmund, München und Kühlungsborn ging.
Leider erlebte Frau von Schweinitz die letzte Ausstellungsstation nicht mehr persönlich, sie starb 2015, 94jährig.
Schon zu Lebzeiten bat sie uns, weitere Reisefotografien anzuschauen, beispielsweise die aus Südamerika, aus Israel und aus Syrien. 2017 war es dann soweit und suchten in Berlin den Nachlassverwalter des „Estate Yvonne von Schweinitz“ auf. Die Israel-Fotografien waren quantitativ nicht sehr ergiebig, doch zu wenig für eine Ausstellung – jedoch das große Konvolut der Syrien-Fotos machte uns neugierig. Nicht nur, dass in den mittlerweile sortierten und beschrifteten Ordnern hunderte von Schwarz-Weiß-Negativen zu finden waren und eine Handvoll Vintage-Prints (Originalabzüge), sondern auch acht Dia-Kästen, jungfräulich verschlossen und lichtgeschützt aufbewahrt. 1953 und 1960, eventuell war sie auch noch ein weiteres Mal in Syrien, was sich nicht genau eruieren ließ, weil Ihre Unterlagen und Tagebücher unvollständig waren.
Allein aus diesen beiden Jahren waren die Reisen so gut dokumentiert, dass eine Auswahl für eine Ausstellung zwar viel Arbeit machte, aber dennoch, auf Grund der hohen Qualität vieler Aufnahmen, einfach erschien. Überhaupt war Yvonne von Schweinitz nicht jemand, der lediglich touristisch oder Sehenswürdigkeiten-orientiert fotografierte, sondern mit der kulturellen Neugierde einer Geisteswissenschaftlerin. Neben den Reisebildern fanden sich zwei Filme, die sie in der Wüstenoase Tadmur geschossen hatte und die Ausgrabungen in Palmyra 1960 zeigten. Nicht allein, dass sich anhand der Aufnahmen zeigte welche Gräber, Gebäudereste, Stelen und Kunstwerke entdeckt und ausgegraben wurden, sie portraitierte auch die Arbeiter und Archäologen – heute von unschätzbarem Wert für Organisationen wie das Deutsche Archäologische Institut und die Syrian Heritage-Vereinigungen, die die Schadenslisten und den Wiederaufbau vor Augen haben.
Nicht unkommentiert bleibt daher die heutige Situation, so sind zwei Satellitenaufnahmen der UNO von UNOSAT in der Ausstellung zu sehen, die die Zerstörung Aleppos veranschaulichen. Außerdem eine kleine Auswahl an Literatur. Möglicherweise jene Bücher, die in der Zeit den Reisenden zugänglich waren und die als Orientierung und zur Vorbereitung dienten. Außerdem ist die Rolleiflex-Kamera zu sehen, die Yvonne v. Schweinitz mitnahm.
Syrien – Fragmente einer Reise, Fragmente einer Zeit – und dies steckt sehr bewusst im Titel – erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, auf erschöpfendes Wissen oder umfängliche visuelle und geistige Weisheit. Es sind Fragmente…
Wir möchten einerseits das Land und seine reichen kulturellen und historischen Bezüge vorstellen – und dies auf eine ganz andere Weise als das die Massenmedien heute vermögen –, andererseits als Reflexion auf die heutige Situation verdeutlichen, dass die Geschichte Syriens trotz aller Widrigkeiten bestehen bleibt, unzerstörbar ist und das Land und seine Menschen nicht vergessen werden sollten. Das kulturelle Gedächtnis, die immateriellen Güter können auch durch die Menschen, die hierhergekommen sind und ganz bescheiden auch durch unsere Ausstellung überleben und sich weiterbilden. Die Erinnerungskultur hat sich bereits verändert und wird sich auch zukünftig noch verändern.
Die Besucher der Ausstellung sehen Bilder einer Reise in einem weiten Land. Weite ist bei Yvonne v. Schweinitz nicht einzig ein geographisches, physikalisches Maß, sondern diese muss selbstredend in ihr selbst als Raum vorhanden gewesen sein, das sieht man den Fotografien an.
Die Genfer Fotografin Ella Maillard, die in den 1930er und 40er-Jahren gemeinsam mit der Zürcher Journalistin Annemarie Schwarzenbach ebenfalls per Auto den Orient bereiste, schreibt passend: „Nur wer Weite erfassen kann, kann sie besitzen“. Die Weite kreiert in dieser Ausstellung Momente der Ruhe, der Blick über die Kreuzritterburg „Krak des Chevaliers“ hinaus über die Homs-Pforte, der Blick aus dem Baptisterium der Ruine des Simeonsklosters in die nördliche Landschaft, die Einsamkeit um die Wüstenoase von Palmyra herum entschleunigt und beruhigt auffällig.
Interessierte können sich durch die Ausstellung auf eine Entdeckungstour begeben und sich dem Land – zwar mit Hilfe des fotografischen Blicks und der Augenzeugenschaft von Yvonne v. Schweinitz – aber letztlich doch in Ihrer eigenen Weise nähern.
Contemporary Arts (CFCA) Hamburg